Noch frömmere Welten als die unsere gibt es nicht, wage ich zu behaupten, denn das Vokabular des Glaubens beherrscht auch die weltliche Szene.
Das neue Auto sei - so sagt sein Konstrukteur –''im Paradies gemacht“.
''Nicht von dieser Welt'' sei ihr Bier, klopft sich eine Brauerei auf die eigene Schulter.
Kat sei Dank'', jubelte einst das Bundesumweltministerium in den vom Blei befreiten Äther.
''Liebe deine Gäste wie dich selbst'', forderte eine Whiskyfirma, und Möbelfabrikanten behaupten, sie verwirklichten Visionen.
Den Auftrag, das Wort Gottes zu verkünden, haben wir offensichtlich voll erfüllt. Der Glaube hat das Leben durchdrungen, den Alltag erreicht. Wir atmen Frömmigkeit, und die Worte des Glaubens perlen wie selbstverständlich über unsere Lippen. Sollte Gott da nicht ein bisschen stolz sein auf uns, seine erfolgreichen Kinder?
Und doch gefriert einem das Hosianna auf den Stimmbändern, denn die Realität des Alltags entspricht so gar nicht den hehren Worten, mit denen sie durchsäuert ist. Die frommen Worte sind wie teure Kleider, die zunächst einmal für die hohen Feiertage gekauft und auch nur an ihnen getragen wurden. Später spielten sie in der zweiten Liga der Festivitäten, an den Sonntagen, ihre immer noch respektable Rolle. Dann taugten sie gerade noch fürs Büro, bis manch ehemals glänzendes Sakko letztendlich bei der Gartenarbeit gesehen wurde. Und warum auch nicht? So ist nun einmal der Lauf der Dinge. Nur: Bei den Kleidern kaufen wir Neues für die Feste nach, wenn wir das Getragene nach unten durchreichten, während wir bei den degradierten religiösen Begriffen nicht nur vergaßen, sie durch neue zu ersetzen, sondern mit ihnen auch gleich die entsprechenden Inhalte aus dem Bewusstsein tilgten. Und jetzt ist es uns oft kalt, so ganz ohne Kleider. Wir fahren im paradiesischen Auto, haben aber keine Ahnung mehr vom Paradies, von der Gewissheit einer persönlichen Vollendung nach unserem Tod bei Gott. Selbst der platteste Atheist plappert fünfmal täglich ''Gott sei Dank'', aber Gott wirklich täglich zu danken für sein Leben, für seine Lieben, fällt kaum noch einem ein. Sein Wissen darum, dass sein Reich ''nicht von dieser Welt'' sei, half Jesus, vor Pilatus Haltung zu bewahren, während bei uns dieses Wort gerade noch zum Biertrinken taugt, und dann wundern wir uns über unsere Wurzellosigkeit. Wir thronen in Bürostühlen, die von visionären Machern geformt wurden, doch unsere wirklichen Visionen reichen gerade noch bis zu der Frage, wie und wo wir es an Silvester so richtig krachen lassen. Wir haben keine Visionen mehr.
Aber da gab es doch einmal einen, der noch Visionen hatte und der anderen ihre ureigensten Visionen klarmachte: Jesus aus Nazaret. Als ihn seine Landsleute daheim nicht mehr duldeten, zog er ins heidnische Galiläa, ins Land Sebulon und Naftali. Er griff damit eine uralte Vision auf, dass dieses Volk im Dunkeln ein helles Licht sehen werde, und er begann dort zu predigen. Als Gefolgsleute griff er nicht auf arrivierte politische oder wissenschaftliche Größen zurück, sondern auf Handwerker, noch dazu auf ziemlich junge, die nicht nur ihr ganzes Leben, sondern auch noch alle ihre persönlichen Fehler und Sünden vor sich hatten. Er begeisterte sie von der Vision des Vatergottes, der einen jeden Menschen liebt, der von ihm überzeugt ist, dass er mit seinen Talenten mehr Gutes vollbringen kann, als er infolge seiner Schwächen kaputtmacht. In der Kraft dieses Glaubens, dieser Vision, gingen sie bis an die Grenzen der Erde, bis an die Grenzen ihrer Kraft, gingen oft darüber hinaus und stürzten doch nicht ins Bodenlose, in die ewige Vergessenheit.
Was - so frage ich mich - spricht eigentlich dagegen, dass auch heute noch ab und zu jemand dieser Vision folgt?