In meiner Zeit als Psychiatrieseelsorger geschah das, wovon ich erzählen möchte: ''Nein, ich möchte keine lange Predigt hören! Sagen sie mir kurz und bündig, was für sie am christlichen Glauben wichtig ist, was es ist, das sie trägt!'' Diese Frage eines Klienten brachte mich – ich gebe es zu – in ganz gehörige Bedrängnis. Ich stotterte herum, brauchte mehrere Ansätze und brachte doch nichts Rechtes zustande. Und seitdem lässt mich diese Frage und die Suche nach einer Antwort darauf nicht mehr los.
Sagen sie mir kurz und bündig, was für sie am christlichen Glauben wichtig ist, was es ist, das sie trägt! Diese Frage kann jedem von uns gestellt werden – und was antworten wir dann? In wenigen Sätzen sagen, was das Leben trägt, geht das denn überhaupt, geht das, ohne das Evangelium zu verkürzen, ohne einseitig zu werden?
Die Christen haben früher kurze Geschichten erzählt, wenn sie etwas über ihren Glauben aussagen wollten – ganz in der Tradition Jesu Christi, der auch kurze Gleichnisse erzählte, wenn er über das Reich Gottes sprach. Und das versuche ich jetzt auch:
Da ist ein Hirte mit seiner Herde. 100 Schafe hat er zu versorgen und irgendwann, eines Abends, merkt er, dass eines seiner 100 Schafe fehlt. Eines von hundert, ein Prozent fehlt ihm. Man ist versucht zu sagen: Was ist das schon, wenn man an die Prozentzahlen denkt, mit denen wir heutzutage alltäglich konfrontiert werden: 10% Arbeitslose, 50% Hungernde, 50% Unterdrückte, was ist denn da ein Prozent? Wenn es um nur ein Prozent geht, muss denn da so genau gerechnet werden? Muss denn nicht zum Wohle aller dieses eine Schaf – so weh es tut - als Verlust abgeschrieben werden?
Doch der Hirte schreibt es nicht als Verlust ab; er läuft den Weg zurück, durch Gestrüpp, über Stock und Stein. Er sucht, bis er das verlorene Schaf findet und dann legt er es sich auf die Schultern und trägt es zurück und feiert mit seinen Freunden und Nachbarn ein Fest.
Ich höre den wütenden Aufschrei direkt: Kann das denn wahr sein, ist das vernünftig? Wegen eines Schafes, das sich verirrt hat, lässt er die 99 anderen zurück, schutzlos und mitten in der Wüste? Wegen eines Schafes! 99 zu 1, das ist doch keine Rechnung, die aufgeht, das ist doch ein Verlustgeschäft; so kann, ja, so darf doch kein vernünftiger Mensch rechnen!
Aber genau so und nicht anders handelt die Liebe, die Liebe, die höher ist als alle Vernunft. So handelt die Liebe Gottes an uns, so handelt Jesus, der diese Liebe ganz konkret uns Menschen nahe bringt. Und von dieser Liebe Gottes und Jesu kann jeder leben und der Glaube an diese Liebe trägt mich.
Gott ist die Liebe – so heißt es im 1. Johannesbrief. Aus Liebe schuf er die Erde. Aus Liebe schuf er den Menschen. Jesus der Gottes- und Menschensohn ist die Liebe. Aus Liebe wurde er einer von uns. Einem jeden von uns läuft er, der Gute Hirte, nach. Dem Kranken. Dem Verirrten. Dem Kind. Und aus Liebe gab er sein Leben hin für uns. Aus Liebe wurde er uns zur Speise. Gott ist die Liebe. Jesus ist die unter uns konkret gewordene Liebe Gottes.Daraus folgt dreierlei:
1. Die Religion Jesu Christi ist die Religion der Liebe.
2. Die Liebe ist das einzige Gesetz des Christentums.
3. Die Gemeinde Christi ist Liebe.
Ich wünsche uns allen, dass wir diese Liebe ganz konkret erfahren und unserem Mitmenschen erfahrbar machen können. Amen