Manch einer kennt es vielleicht noch, das Bild vom guten Hirten, der ein Schaf auf den Schultern trägt – etwas romantisch, etwas weltfremd. Wir heutigen, modernen Menschen haben in unserer gepflasterten, vollständig geteerten Autowelt kaum noch einen Bezug zum Hirtenberuf. Wenn wir nicht gerade für „reine Schurwolle“ schwärmen, dann fristet das Schaf in unserer technisierten Welt ein eher kümmerliches Dasein. Es taugt höchstens noch zum Schimpfwort, denn es erinnert uns zu sehr an Herdendasein, Herdentrieb, Kadavergehorsam – und niemand von uns modernen, emanzipierten und aufgeklärten Menschen möchte ein solches „Herdenwesen“ sein.
Hat also das Bild vom Guten Hirten ausgedient? Ich glaube nein, denn für mich es ist eines der schönsten und besten Bilder der ganzen Bibel. Schauen wir auf ihn, den Guten Hirten: Wie viel Mühe und Sorge steckt dahinter, wenn er die 99 Schafe zurücklässt und dem einen verlorenen nachgeht? Wer von uns würde das schon tun? Und mit welchem Einsatz und welcher Freude schützt er seine Tiere? Ein Hirte darf seinen Tag nicht nach Stunden oder nach Tarif bemessen. Wer aber ist dazu heutzutage noch bereit? Da ist auch von Räubern die Rede, von Wölfen, die die Herde erschrecken, die einbrechen und sogar verletzen. Der Hirte nimmt es mit den Wölfen auf. Manche wird er vertreiben – und er wird mit vollem Einsatz kämpfen, auch wenn er dabei möglicherweise umkommt. Eines nämlich tut der gute Hirte nicht: sich selbst in Sicherheit bringen. Er wird nicht fliehen, sondern er bleibt und verteidigt seine Schafe bis aufs Blut, bis zum letzten Atemzug. Wer von uns wäre dazu bereit?
Jesus ist dieser Gute Hirt, der sich um die Seinen kümmert, im Gegensatz zu jenen, die sich nur für die Wolle oder das Fleisch interessieren. Solchen schlechten Hirten ist wohl jeder von uns schon einmal aufgesessen, wo man spürt, dass man ausgenutzt wird, wo man geholfen hat, ohne Dank dafür zu erhalten. Wie oft sind wir schon den Lockrufen der Werbung aufgesessen – und in solchen Situationen sind wir jedes Mal an schlechte Hirten geraten.
Jesus sagt: Ich bin der Gute Hirt. Dieses Bild ist uns vertraut. Und doch habe ich manchmal den Eindruck: Hier stehen die Hirten – dort sind die Schäfchen. Hier stehen die Priester und Pastoren – dort stehen die Laien. Hier stehen die Amtsträger – dort sitzen die geduldigen Schweiger. Und wenn so etwas geschieht, ist das schade.
Genau genommen sind wir nämlich alle zu Hirten berufen. Jede Mutter, jeder Vater, jeder Vorgesetzte ist immer zugleich auch ein Hirte. Jeder, der Verantwortung für den anderen, für den Nächsten trägt, ist auch ein Hirte – und er sollte im Idealfall ein „Guter Hirte“ sein. Ich finde, die in meiner Heimat manchmal noch üblichen Abschiedsworte können da ein guter Denkanstoß sein – wenn man sich in Bayern verabschiedet, dann sagt man nämlich häufig „Pfüad Gott“, also „behüte dich Gott!“ – und das heißt nichts anderes als: Dein Hirte soll Gott sein. Er möge dich behüten.
Und was gibt es Schöneres, als unter dem Schutz und Schirm Gottes durchs Leben zu gehen?