Die Liebe ist eine umfassende Schuld, die wir als erstes unseren Glaubensgeschwistern gegenüber haben, dann aber auch gegenüber allen Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben oder von deren Leid und Elend wir hören. Die Liebe ist es, die unser Denken, Reden und Handeln bestimmen soll. Letztlich gilt: Die Liebe ist unsere einzige Schuld! Sie ist eine umfassende Schuld! Und an diese Schuld, die wir nie ganz abtragen können – nämlich die Verpflichtung zu „lieben“, erinnert uns der Apostel hier. Das griechische Wort, das Paulus hier gebraucht bezeichnet eine tiefe, selbstlose und übermenschliche Zuneigung eines Menschen zu einem anderen und diese Form der Liebe gründet nicht in irgendeiner Eigenschaft der geliebten Person, sondern ist völlig unverdient. Sie ist anders als jede andere Form von Liebe, weil sie nicht nur die Liebenswürdigen, sondern auch die Feinde liebt. Diese Liebe zeigt sich im Geben – so liebte Gott die Welt so sehr, dass er seinen eingeborenen Sohn hingab.
Diese Liebe ist in erster Linie eine Willensentscheidung und hat nichts mit Gefühlen zu tun. Die Tatsache, dass uns befohlen wird zu lieben, zeigt uns, dass es sich hier um etwas handelt, zu dem wir uns entscheiden können, ja müssen. Wenn es hier um unkontrollierbare Emotionen ginge, die uns in einem unerwarteten Moment überfallen, dann könnten wir kaum dafür verantwortlich gemacht werden – aber es wird damit auch nicht ausgeschlossen, dass an dieser Liebe, die uns hier ans Herz gelegt wird, auch unsere Gefühle beteiligt sein können.
Diese Liebe aus eigener Kraft hervorzubringen ist unmöglich, nur durch die Kraft des Heiligen Geistes kann sie in uns bewirkt werden.
Der Apostel wählt zur Unterstützung seiner Argumentation diejenigen Gebote aus dem Dekalog aus, welche lieblose Handlungen gegenüber unseren Nächsten verbieten – Ehebruch, Mord, Diebstahl, falsches Zeugnis und Habgier sind mit der von uns geforderten Liebe unvereinbar.
Liebe beutet den Leib eines anderen Menschen nicht aus, das tut nur die Unsittlichkeit.
Liebe nimmt niemandem das Leben, ein Mörder tut es.
Liebe stiehlt kein fremdes Eigentum, der Dieb tut es.
Liebe spricht anderen nicht ihre Rechte ab, ein falscher Zeuge tut dies.
Liebe unterhält kein Verlangen nach dem Eigentum des anderen, die Habsucht jedoch tut es.
Paulus könnte aus meiner Sicht noch ein weiteres Gebot erwähnen, nämlich: Ehre Vater und Mutter – alle diese Gebote laufen nämlich auf das eine Gebot hinaus: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Die Liebe will niemanden schädigen, sondern sucht aktiv das Wohlergehen und die Ehre aller. So gesehen hat Paulus völlig recht, wenn er sagt, dass derjenige der liebt, alle Gebote des alttestamentlichen Dekalogs erfüllt.