Stellen wir uns für einen Augenblick vor, es hätte Jesus nie gegeben. Was würde uns nicht alles fehlen: Es gäbe keine christlichen Gemeinden, kein Evangelium, keine Bergpredigt, keine Seligpreisungen, keine Zeichen und Gesten des Erbarmens und der Vergebung, kein Abendmahl, kein Kreuz, kein Ostern - wie arm wäre unsere Welt, wie arm unser Leben!
Sicher gäbe es auch dann noch gute Menschen und gute Taten - aber sie wären vereinzelt, isoliert, ohne inneren Zusammenhang. Unsere Welt wäre eine Welt der harten Kalkulation, der rücksichtslosen Konkurrenz, des Profits und Konsums, eine Welt ohne Gnade und Erbarmen; jeder würde nur nach dem beurteilt, was er hat und leistet.
''Aber so ist es doch!'' wird mancher einwenden, ''so sieht es doch aus in unserer Welt.'' Zugegeben, so sieht es aus. Aber dennoch muss ich widersprechen: Wer nur das Schlechte und das Unangenehme sieht, der sieht eben nicht alles. Ich denke da zum Beispiel an die vielen Schwestern und Pfleger, die tagein, tagaus da sind für die Kranken, die da sind für die, die nichts haben, die da sind für die, die nichts leisten können, die da sind für die, die ihr Leben lang auf fremde Hilfe angewiesen sind. Oder ich denke an einen Seelsorger in Brasilien, den ich kennen lernen durfte, der jede freie Minute bei den Armen verbringt und so oft er nur kann, bei denen ist, die kein Dach über dem Kopf haben, ihnen Mut macht oder Hilfe organisiert. Oder ich denke an die Frau und die beiden Männer aus einer Friedensgruppe in Belfast in Nordirland, von denen ich vor ein paar Jahren gelesen habe, die das tödliche Freund-Feind-Schema verlassen haben, über die Grenzen ihres Stadtteils hinweg, über die Grenzen ihrer Konfession hinausgehen, ihr Leben riskieren, um der Feindschaft ein Ende zu machen. Solche Menschen sind Christen, die begriffen haben, dass Jesus von Nazaret Recht hat, dass er unserem Leben einen Sinn gibt, dass er das Licht ist für diese Welt. Es sind Menschen, die ihm seitdem nachfolgen mitten in den Problemen und Konflikten ihres Alltags. Sie stehen stellvertretend für so viele, die zu allen Zeiten und in allen Ländern diese Welt menschlich, bewohnbar, sinnvoll gemacht haben.
Ich will dabei auch gar nicht das andere verschweigen, die Unzulänglichkeiten unserer Welt verdrängen oder gar leugnen: Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, sieht allerorten das Unrecht, das Leid, die Unterdrückung und Verfolgung. Ausgeübt von Christen, unter Berufung auf denselben Jesus Christus! Nur - diese Leute haben nicht recht! Sie haben seinen Namen missbraucht für ihre Zwecke: für Kreuzzüge, Eroberungen und Kolonisation, für politische oder kirchliche Machterweiterung, für handfeste wirtschaftliche oder territoriale Interessen. Aber das wehrlose Kind in der Krippe, der arme Menschensohn, der nichts hat, wohin er sein Haupt legen kann, der Verdächtige und Verfolgte, der Verurteilte und Gekreuzigte - er eignet sich nicht für die Rechtfertigung kirchlicher oder weltlicher Herrschaft. Denn er selbst ist konsequent den anderen Weg gegangen: den Weg der Freiheit und Armut, der Gerechtigkeit und Treue, der Geduld und des Erbarmens, den Weg der Gewaltlosigkeit und des Friedens. Und darin ist er Licht für diese Welt geworden, ein Zeichen der Hoffnung, dass etwas anderes möglich ist. Ja, mit Jesus ist Licht und Wärme in diese dunkle und kalte Welt gekommen. Wir spüren, dass sein Weg die Wahrheit ist.
''Aber was ist denn aus seiner Sache geworden?'' wird mancher skeptisch fragen. Da gibt es Menschen, die sich als Christen bezeichnen und dennoch genauso stumpf, machtbesessen und rachsüchtig sind, wie die meisten der nicht-christlichen Zeitgenossen! Ohne Frage, das stimmt - und dennoch ist es ein Wunder, dass sich eine Spur von Menschen durch die Zeit fortsetzt, die in der Nachfolge Jesu mit ihrem Leben bezeugt haben, dass wir uns auf die Vision des Lichtes, des Reiches Gottes verlassen können.
Wirklicher, echter Christ sein - das heißt, die Botschaft Jesu hören und schauen, wie und auf welche Weise wir Jesus den Menschen näher bringen können.