“WO BIST, WO WARST DU, GOTT?”
Wer kennt diesen Satz nicht. So manches Mal in meinem Leben habe ich ihn selbst hinausgeschrien, besonders dann, wenn das Unausdenkliche, Entsetzliche, Unerträgliche geschehen ist.Unsere Bibelübersetzungen verharmlosen den Text des Propheten Jeremnia meist: Im hebräischen Original heißt es da sehr viel deutlicher: “Herr, du hast mich verführt... Du hast mich gepackt und vergewaltigt” - Gott als einer, der verführt (was ja an sich schon schlimm genug ist), und Gott als einer, der vergewaltigt – das alles nicht aus dem Munde eines Gott-Hassers und -feindes, sondern aus dem Mund Jeremias, der von Jugend an Gott liebte und sein Prophet war. Schwer zu begreifen, schwer zu ertragen, aber so steht es da, und so ist es auch gemeint.
Jeremia ist nicht freiwillig bei der Sache. Er ist “verführt”, vergewaltigt worden, eine Rolle zu spielen, die ungeheuer weh tut; und wie ein junges, unerfahrenes Menschenkind hatte er diesem übermächtigen Gegenüber nicht viel entgegenzusetzen. Er fühlt sich also von Gott benutzt – wozu? Er muss in Gottes Namen Dinge sagen, von denen die Leute nichts hören wollen. Stellen wir uns einmal vor, so etwas würde heute geschehen? Bei jedem Festbankett oder sonstigen großen Festen würde einer aufstehen, den Gästen den Appetit und die Laune mit Hinweisen auf den Hunger in der Welt verdirbt. Oder unseren reichen, überreichen Lebensstil in Zusammenhang bringt mit dem Ertrinken von Menschen in fernen Ländern, wenn dort die Fluten wegen der Klimaveränderungen alles überschwemmen.
Jeremia klagt über Gottes Grausamkeit: “Warum tust du mir das an? Warum ich? Könnte ich nicht irgendwo friedlich und still leben, meinen Wein trinken, dich, Gott, einen guten Mann sein lassen?” Aber jetzt, wo Gott ihn gepackt hat, muss er einfach sagen, was er sieht. Und wohin das führt. Was all die anderen nicht sehen wollen, weil die Wahrheit zu weh tut.
Ich habe Achtung und großen Respekt vor Menschen wie Jeremia, die sich mit der nackten, ungeschminkten Wahrheit unbeliebt machen, muss aber gleichzeitig erkennen, dass ich selbst meist nicht so bin wie er: ich bin lieber “diplomatisch”, leise, vorsichtig.
Jesus war auch so einer, der die Wahrheit gesagt hat, immer wieder. Was wohl auch einer der Gründe dafür sein dürfte, warum er ans Kreuz gekommen ist. Und sein Ruf zum Vater, “Warum hast du mich verlassen” – hätte auch lauten können “Warum tust du mir das an?”
Vielleicht lernen wir daraus eines: Gott will, dass wir erschrecken, innehalten und erkennen: so, wie wir leben, geht das nicht gut aus. Noch einmal: ich möchte nicht mit Jeremia tauschen. Aber ich bin froh, dass es ihn gibt.
''Wo bist du, Gott?'' – diese Frage wird uns nie loslassen, wenn wir an das Unglück in der Welt denken. Ich höre von Jeremia, dass er fest vertraut hat: Gott ist da. Vielleicht ganz anders, als ich es mir wünsche und hoffe. aber er ist da, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, immer. Amen