Wenn Theologen Aussagen aus der Bibel in die Gegenwart übertragen, dann kann das auch mal ziemlich danebengehen. Allzu schnell werden die eigenen Ideen in biblische Aussagen hineingewoben. Oder das, was gerade aktuell nötig erscheint, wird hineingedeutet. Und es wird hingebogen und verdreht, bis die Aussage der Bibel zur eigenen Meinung zu passen scheint. Ein krasses Beispiel für solches Zurechtbiegen einer biblischen Wahrheit hat Jesus mal furchtbar geärgert.
Es ging um das wichtigste Gebot von allen – um die Nächstenliebe. Da steht bei Mose: „Du sollst Deinen Nächsten lieben!“ Klar und ohne wenn und aber steht das da – und ist eben manchmal unbequem und sperrig.
Wie soll das denn gehen, wenn dieser Nächste mir schadet? Mich verletzt oder bedroht? Soll, ja kann ich dann immer noch mit Liebe antworten? Das ist doch eine Zumutung. Kann Gott so was von mir verlangen?
Und so haben findige Theologen damals hinzugefügt: „… und deinen Feind sollst Du has-sen.“ Das aber steht nirgends in der Bibel! Aber genau das konnte man in der Zeit Jesu in vielen Predigten hören. Und das ärgerte Jesus!
Dazu sagt er klar und unmissverständlich: „Nein! Nächstenliebe verträgt keine Einschränkung! Liebt Eure Feinde! Ganz praktisch: betet für sie. Wünscht Ihnen Gutes und nicht Böses! Bezeugt Ihnen die Liebe Gottes und nichts Anderes.“
Eine Geschichte von Franz von Assisi fällt mir dazu ein: Als Franz von Assisi mal unterwegs war, um zu betteln, sprach er einen reichen Mann auf eine Spende an. Der aber hatte sich wohl gerade tüchtig geärgert und gab dem Bettelmönch eine schallende Ohrfeige. Darauf sagt Franziskus: „Das war jetzt für mich; habt ihr nun auch noch etwas für meine Armen?“ – Und der Reiche war so beschämt, dass er ihm seine komplette Geldbörse gab.
„Liebt eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen“, sagt Jesus. Und genauso handelt Franz von Assisi hier. Er rechtfertigt sich nicht, fragt nicht, warum schlägst du mich, sondern nimmt es hin und bedankt sich sozusagen auch noch dafür. Und das wäre doch auch eine Handlungsanweisung für uns: Warum sollen wir immer so handeln, wie die Allgemeinheit es von uns erwartet? Warum nicht mal gegen den Strom schwimmen, warum nicht mal völlig unerwartet reagieren?
Dass ich zu jemandem, der mich malträtiert und mobbt, dennoch freundlich und höflich bin, das wundert den bestimmt. Vielleicht kommt er so zum Umdenken?
Wenn ich auf Gewalt nicht mit Gegengewalt reagiere, das entschärft die Situation.
Wenn ich das Gegenteil von dem tue, was der Andere eigentlich von mir erwartet, das bringt ihn aus dem Gleichgewicht, bringt ihn vielleicht zum Nachdenken.
Wenn wir es schaffen, so zu handeln, dann könnte auch von uns eine Veränderung in der Gesellschaft ausgehen, die hineinwirkt in die Welt und diese Welt zum Besseren verändert.