Vor der Einführung der blauen Tonne für das Altpapier war es irgendwie schon ein eingefahrenes Ritual für mich: In regelmäßigen Abständen bündelten wir unsere alten Zeitungen, Illustrierten, Hefte und Taschenbücher und legten sie vor die Haustür. Irgendwelche hilfreichen Leute haben sie dann abgeholt. Für mich bewirkte dies immer ein doppeltes Gefühl der Erleichterung: Einmal wüsste ich sowieso nicht, wohin mit dem Plunder, zum andern blieb darüber hinaus sogar noch das gute Gefühl, damit etwas Gutes getan zu haben.
Also störten mich die Zeitungsbündel an den Hauseingängen und auf dem Gehsteig auch nicht besonders. Im Gegenteil, es war eigentlich ganz gut, dass es das gegeben hat. Denn immer wenn mir so ein Bündel so richtig im Weg lag und ich es mit dem Fuß beiseite schob, um den Weg frei zu haben, dann kamen mir Gedanken in den Sinn, die auf den ersten Blick mit diesem Bündel Altpapier nicht direkt zu tun hatten.
Was nämlich tun wir, wen wir ein Bündel alter Zeitungen und Zeitschriften zur Seite schieben? Wir schieben dabei eine ganze Menge beiseite:
Schlagzeilen von gestern und vorgestern, über die man sich womöglich furchtbar aufgeregt hatte,
Zeitungsmeldungen, die einem Angst vor der nächsten Zukunft einjagten,
Reportagen über Verbrechen und Skandale,
triumphale Siege auf dem grünen Rasen,
Klatsch aus den Gassen,
Sex und Stars,
Marktangebote, Filmannoncen, Tauschgeschäfte, Börsenberichte -
das alles ist auf einen Schlag nichts mehr wert und wird mit der Fußspitze beiseite geschoben. Unwichtig, überflüssig, wertlos. Und für mich immer wieder ein Beispiel dafür, wie in unserer Gesellschaft Prioritäten gesetzt werden: Ja, so vergänglich ist alles, so schnelllebig ist unsere Zeit, so schnell geht das:
Vorige Woche noch begehrtes Futter unserer Neugier,
vorgestern noch Sensation, die den Pulsschlag erhöhte,
gestern noch Fundgrube von Ärger, Lust und Spannung.
Und heute?
Aus, vorbei, vergessen.
Was bleibt, ist ein graues Bündel Vergangenheit ohne Marktwert und Attraktion.
Es kommt mir noch immer komisch vor, mir dabei vorzustellen, dass das Allerletzte, was dabei früher heraussprang, ein Beitrag für Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe war. Die verschiedensten Hilfsorganisationen halfen mit den Erlösen den Ärmsten der Armen. Und so gesehen, wurde so ein Bündel Altpapier geradezu zu einer stummen Straßenpredigt an uns eilige Konsumbürger. Wie viel innere Ruhe könnten wir ausstrahlen, wie viel nutzlose Aufregung uns und anderen ersparen, wie viel Sorgen ad acta legen, hätten wir zuweilen wenigstens den Mut und die Kraft, wegzuschieben, was Tag für Tag auf uns einstürmt! Abstand von den Dingen gewinnen - wieso schaffen wir das eigentlich nicht?
Diese stumme Predigt aus einem Paket Müll über Vergänglichkeit, Mittelmaß und fragwürdige Werte mit denen wir leben, sie stellt uns letztlich die alles entscheidende Frage, ob in unserem eigenen Leben aus all den Kurzatmigkeiten, Torheiten und Süchten wenigstens der letzte Rest noch ein Dienst der Liebe ist. Das allein nämlich zählt, wenn wir selbst einmal ''abgeholt'' werden