Gebet!
O Gott! Du hast mit uns Menschen nichts als Plage! Ach, wenn ich eingedenk aller Wohtaten, die Du mir erweisen hast, meinen Geist zu sammeln suche, um Dir gehörig zu danken - ach, da finde ich mich oft so zerstreut: die verschiedenartigsten Gedanken durchjagen meinen Kopf, und alles endet damit, daß ich Dich bitte, mir zu helfen, Dir zu danken. - Aber soviel könnte ein Wohltäter doch verlangen, daß man ihm nicht die neue Plage bereite, indem man von ihm verlangt, daß er einem helfe, ihm zu danken! Oh, und wenn für einen Augenblick die Sünde Macht über mich bekommt in neuer Sünde! - wenn dann meine Seele untröstlich ist, so weiß ich nichts anderes zu tun, als Dir zu sagen: „Du mußt mir helfen! Du mußt mich trösten! Du mußt mir etwas zeigen, in dem ich Trost finden kann, so daß meine Sünde sogar ihre Begründung erkennen läßt, indem sie mir weiter hilft als ich sonst gekommen wäre.“ - Wie unverschämt! - Du bist es ja, gegen den ich sündigte und von dem ich dann verlangte, daß er mich deswegen tröste!
Und doch weiß ich, daß dies Deiner unendlichen Liebe nicht mißfällt, denn es ist in gewissem Sinne ein Zeichen von Fortschritt. Wenn die Sünde sich eines Menschen ganz bemächtigt hat, dann wagt er gar nicht, an Dich zu denken. Wenn er gegen sie ankämpft, aber nicht mit seiner vollen Kraft, dann wagt er höchstens nur, sich selbst bei Dir anzuklagen und Deine Verzeihung zu erbitten. Aber wenn er mit all seiner Kraft ehrlich kämpft, erst dann kann er begreifen, daß Du gewissermaßen Partei für ihn nimmst und ihm zur Seite stehst, daß Du es bist, der ihn trösten wird, so daß er, anstatt sich bloß bei Dir anzuklagen, es fast wagt, Klage zu führen, als ob ihm ein Unrecht geschehen wäre.
Sören Kierkegaard, 1854