Manchmal möchte ich einfach nur mit Hingabe klagen. Klagen über die Ungerechtigkeit dieser Welt, über viel zu frühes Sterben über Naturkatastrophen oder Autounfälle. Über das Geschick von jungen Menschen, die schon als Kinder so viel Grausames erlebt haben, (gerade jetzt bei den Flüchtlingen, aber auch sonst in der Schülerschaft)dass sie für ihr Leben keine Hoffnung mehr haben.
Was ich überhaupt nicht brauchen kann, wenn ich klagen will, sind Sätze wie: »Das wird schon wieder! Anderen geht es genauso! Vielen geht es schlechter als dir. Wenn du … hättest du …, dann wäre …. Also bei mir ist das immer so …«
Jesaja lebte zur Zeit des Exils. Die Klage über den Verlust des Tempels, die Eigenständigkeit als Volk und vor allem die Anklage: Wo war Gott in alledem? musste er beantworten.
»Mein Weg ist vor Jahwe verborgen und mein Recht entgeht meinem Gott!« Das ist die Klage Israels in Kurzform!
So klagt eine Gemeinschaft von Menschen, die nicht mehr recht weiß, wer sie ist: fern der Heimat im Exil in Babylon, ohne den religiösen Mittelpunkt des Tempels, verunsichert durch fremde religiöse Traditionen und das ständige Vergleichen, und ohne Perspektive, dass es anders und besser wird.
Israel klagt nicht aus der akuten Katastrophe heraus. Die Menschen haben sich durchaus eingerichtet im Exil, sie gründen Familien, haben eigene Siedlungen und sogar eigene Gottesdienste. Aber über alldem hängt eine Wolke von Müdigkeit und Resignation: Ja, der Betrieb läuft, der Lebensbetrieb und der religiöse Betrieb, aber dass Gott wirkt, jetzt und in Zukunft, das fällt schwer zu glauben. Sieht Gott uns noch? Kann er uns sehen? Will er uns sehen? Kann er uns helfen? Will er uns helfen?
So klagen und fragen die Israeliten.
Jesaja lässt diese Klage stehen Er vertröstet nicht. Ich möchte seine lange Antwort in drei Abschnitte unterteilen.
Jesaja schreibt: „Wer kann mit der hohlen Hand das Wasser des Meeres abmessen, mit der Spanne seiner Hand den Umfang des Himmels bestimmen? Wer kann den Boden, der die Erde bedeckt, in Eimer abfüllen oder die Berge und Hügel auf der Waage abwiegen? Und wer kann die Gedanken des HERRN abmessen? Wer wird von ihm in seine Pläne eingeweiht? Braucht der Schöpfer der Welt jemand, der ihm Ratschläge gibt und ihm auf die Sprünge hilft, der ihn über Recht und Gerechtigkeit belehrt und ihm den richtigen Weg zeigt? Begreift doch: Für den HERRN sind die Völker wie ein Tropfen am Eimer oder ein Stäubchen auf der Waagschale; der ganze Erdkreis wiegt für ihn nicht mehr als ein Sandkorn. Alles Wild auf dem Libanon reicht nicht aus und alle seine Bäume geben nicht genug Brennholz für ein Opfer, das ihm angemessen wäre. Alle Völker sind vor ihm wie nichts, mit all ihrer Macht zählen sie für ihn nicht.
Das ist der erste Schritt: Gott und Mensch werden an ihren Platz gestellt. Wer kann Gottes Gedanken ermessen? Gott der Schöpfer steht hoch über den Dingen. Ihr Sie und ich sind Teil seiner Schöpfung. Als Teile der Schöpfung können wir allenfalls Teile der Schöpfung erfassen. Weder mit der bloßen Hand noch mit modernsten Maschinen sind wir in der Lage, die Kraft des Wassers zu steuern. Überschwemmungen oder die Kraft eines Hurrikans, wie diese Woche in Australien sind für Menschen unüberwindlich. Für Gott Teile seiner Schöpfung. Wenn ich aber nicht einmal das, was ich mit meinen Händen „begreifen“ kann auch beherrsche, wie will ich dann das Unbegreifbare gestalten? Wie kann ich Gott dem Schöpfer Ratschläge erteilen? Was bei Jesaja fast ein wenig höhnisch klingt, nimmt meiner Klage nicht den Grund. Ich darf klagen, wenn ich mit meiner Kraft an meine Grenzen stoße. Wenn ich vor Trauer nicht mehr weiter weiß. Aber: meine Ohnmacht ist nicht Gottes Ohnmacht. Was ich nicht vermag, ist ihm möglich. Was ich nicht begreifen kann, mag bei ihm einen Sinn machen.