Wie gefalle ich dir? - In bestimmten Zeiten der persönlichen Entwicklung ist das für uns Menschen die wichtigste Frage überhaupt. Natürlich wird sie nicht immer offen ausgesprochen, aber was tut man nicht alles, um herauszufinden, ob man gefällt, ob man gut ankommt, ob man o.k. und „in“ ist.
Wie gefalle ich dir? - so haben wir wohl alle schon gefragt, und manchmal tun wir es auch heute noch: Da fragt der Mann die Frau, die Tochter ihre Mutter, die Freundin den Freund: Gefalle ich dir? Und welches Glück, welche Freude, wenn die ehrlich gemeinte Antwort lautet: Ja, du gefällst mir. Du bist die oder der Schönste, du gefällst mir am allerbesten.
Im Buch Jesaja begegnet uns einer, der nicht gefällt: Er hatte keine Gestalt noch Schöne, heißt es in der alten Lutherbibel. Da war nichts an ihm, das gefallen hätte. Eine armselige Gestalt, ein Mann der Schmerzen, von Krankheit gezeichnet. Wenn etwas anzuschauen über unsere Kraft geht, schlagen wir die Hände vors Gesicht. So war er wie einer, vor dem man das Gesicht verbirgt. Einen leidenden Menschen anzuschauen, ihm gar ins Gesicht zu schauen, das fällt ja auch tatsächlich schwer. Es gehört schon Mut dazu, die Besuche auch dann fortzusetzen, wenn die Krankheit des guten Freundes oder der langjährigen Nachbarin in ihr letztes Stadium tritt.
Aber nicht nur Krankheit und Schmerzen sind es, die den Gottesknecht kennzeichnen. Es kommt noch etwas anderes hinzu. Man wendet sich von ihm ab. Er zählt nichts mehr, ist nichts mehr wert. Man lässt ihn links liegen. Darum haben wir ihn für nichts geachtet. Mitleid und Respekt, die doch einem leidenden Menschen zustehen, bleiben dem leidenden Gottesknecht versagt. Zu Krankheit und Schmerzen treten Verachtung und die Verweigerung jeglicher Anerkennung hinzu.
In der Mitte dieses Textes aber hören wir etwas, woran unsere christlichen Ohren sich vielleicht schon allzu sehr gewöhnt haben: Das, was an Leiden und Krankheit, an Angst und Schmerzen, an diesem Knecht Gottes sichtbar wird, seine ganze erbärmliche Gestalt, das hat etwas mit uns zu tun. Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.
Wie geschieht das?, so fragen wir uns vielleicht. Geht das überhaupt, dass einer die Lasten des anderen tragen und auf sich nehmen kann?
Was ist es, was uns zu Menschen macht? Welches Gen? Welche Eigenschaft? Welche Fähigkeit? Eine Antwort auf diese Frage könnte lauten: Es ist die Fähigkeit zum Mitgefühl und zum Mitleiden. Was uns am meisten zu schaffen macht, uns Schlaf und Seelenfrieden raubt, sind oftmals nicht die Schmerzen am eigenen Leib, sondern die Leiden und schmerzvollen Wege, welche die uns nahe stehenden Menschen ertragen müssen.
Wo uns etwas zu Herzen geht, wo wir uns anrühren und betreffen lassen durch das Schicksal, die Schuld oder das Leiden anderer Menschen oder eines ganzen Volkes, da ist möglicherweise ein erster Schritt getan auf diesem Weg, den der leidende Gottesknecht geht. Mitleiden, mitfühlen mit anderen ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Und wo sie noch nicht gänzlich gestorben ist in unserer Mitte, da besteht Hoffnung.
Welche Leiden und Schmerzen mögen es gewesen sein, die den Gottesknecht zu einem solchen Schmerzensmann gemacht haben? Vielleicht war es ein großes Heimweh nach dem Land, aus dem man die Menschen weggeführt und vertrieben hatte. Solch ein Heimweh kann wirklich krank machen, nicht nur bei Kindern, die zum ersten Mal lange von zu Hause fort sind. Aber auch der Glaube, der immer Halt und Trost im Leben gegeben hatte, war in eine tiefe Krise geraten. Wo war Gott in diesen wirren Zeiten? Waren die Menschen nicht in schrecklicher Weise auf sich allein gestellt? Sie hatten Schuld auf sich geladen. Es war so vieles geschehen, was sie den Eindruck nicht loswerden ließ, Gott habe sich aus ihrem Leben verabschiedet. Und genau in diese trostlose Situation hinein spricht der Prophet Jesaja dieses große Wort der Hoffnung und der Ermutigung: Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Ist das nicht ein Grund befreit aufzuatmen, sich zu freuen, und diese Freude mit anderen zu teilen?